Der Spielmacher der Wembley-Elf: Günter Netzer wird 80

14.09.2024 11:15

Es ist kein gutes Jahr für die Legenden des deutschen Fußballs, zu viele sind 2024 schon gestorben. Franz Beckenbauer gleich in den ersten Januar-Tagen etwa, der Kaiser wurde 78. Der Mann, der Deutschland zum dritten WM-Titel schoss, Andreas Brehme, verschied im Februar mit 63. Und der Stuttgarter Meistertrainer Christoph Daum wurde diese Woche beigesetzt, sein turbulentes Leben währte 70 Jahre. Günter Netzer hat sie also alle überlebt, am heutigen Samstag feiert er seinen 80. Geburtstag. DFB.de mit einer Würdigung des Welt- und Europameisters.

Er begeht den Ehrentag freudig, aber auch bescheiden. "Ich bin demütig, diese Zahl erreichen zu können, das ist wenigen vergönnt", hat er in einem seiner seltenen Interviews dieser Tage gesagt. Netzer hat sich zurückgezogen, aber nicht versteckt. Jeder weiß, dass er seit Jahrzehnten in Zürich lebt, bloß arbeiten tut er nicht mehr. Und das heißt, dass er nicht mehr das Rampenlicht sucht, in das der Spieler, der Manager, der TV-Experte und der Unternehmer den Großteil seines Lebens gerückt wurde.

"Vor zehn Jahren habe ich alle meine Leben aufgegeben bis auf das reale", teilte er in einem Podcast namens "Einfach Fußball" mit. Er habe drei bis vier Leben gelebt, hat er mal gesagt und das Besondere dabei: "Ich habe im Leben nie etwas tun müssen, zu dem ich keine Lust hatte." Auch auf dem Rasen nicht, wo sich in seiner Gladbacher Zeit das Klischee hielt, dass andere wie der unermüdliche "Hacky" Wimmer für ihn mitliefen, damit er glänzen konnte.

Der Inbegriff des Spielmachers

Die Podcast-Hörer erfuhren, dass Günter Netzer trotz Schmerzen in den Knien und an der Wirbelsäule noch immer ein Glückskind ist, das nicht hadert. Körperliche Beschwerden im Alter seien eben der Preis dafür, den ein Hochleistungssportler zahlen müsse, die hätten eben "keinen Anspruch auf Schmerzfreiheit". Er nimmt sie als Andenken an ein Leben, das ihm "so viele beste Tage beschert" habe, dass er sie "gar nicht alle benennen kann." Wer alt genug ist, könnte ihm bei der Rekonstruktion eventuell behilflich sein. Wer Netzer in den Goldenen Siebzigern des deutschen Fußballs spielen sah, kann ihn nicht vergessen und so mancherlei Glanztat aufzählen. Den Jüngeren, die mit mehreren Fernsehsendern und erst recht denjenigen, die mit Handys und Internet aufgewachsen sind, muss man indes Günter Netzer schon vorstellen.

Er gilt als der Inbegriff des Spielmachers, quasi schon von klein auf. Ohne Netzer hätte es in der Gasthausstraße in Mönchengladbach in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts wohl etliche Spiele weniger gegeben, denn Klein-Günter war der Balllieferant. Seine Mutter betrieb einen Tante-Emma-Laden – und da gab es auch Gummibälle. So durfte er schon mit Fünf bei den Großen mitspielen. Es gab noch mehr glückliche Fügungen und wenn es einen Fußball-Gott gibt, dann hat er auf Günter Netzer immer ganz besonders gut aufgepasst. Der war fünf Tage auf der kriegerischen Welt, da fielen Bomben auf das Krankenhaus, aber es fanden sich anno 1944 rettende Hände, die die Säuglingsstation noch rechtzeitig evakuierten. Kaum zuhause, landete eine Bombe hinter der Wohnzimmerwand in der Gasthausstraße 31, aber sie erwies sich als Blindgänger.

Er war fünf, da durfte er erstmals hören, dass ihm Großes beschieden war. Das hat er nicht vergessen und hielt es in seiner ersten Biographie "Rebell am Ball" (1971) fest. "Der Günter, der kann ja mit dem Ball umgehen wie kein anderer. Der wird mal sicher was", sagte der Nachbar der Mutter. Die Prophezeiung wurde wahr. Der jüngeren Generation ist er noch als Fernsehexperte präsent, obwohl auch diese Zeit schon ein Weilchen her ist. Sie endete mit der WM 2010, als er im verbalen Doppelpass mit Gerhard Delling in der ARD der Nationalmannschaft regelmäßig ein kompetentes Zeugnis ausstellte. Eines, auf das der Zuschauer etwas gab, weil Netzer so seriös rüber kam und auf jede Selbstdarstellung verzichtete.

Der erste Popstar der Bundesliga

Über den jungen Netzer hat das niemand jemals behauptet. Er war der erste Popstar der Bundesliga. Ein junger Wilder, der sich mit seinen Vorgesetzten anlegte und seinen eigenen Weg ging. Der in New York mit seinem Kumpanen Berti Vogts nachts eine Feuerleiter herunterkletterte und sich in einem Taxi über den Broadway fahren ließ, weil er mehr sehen wollte als nur Hotel und Trainingsplätze. Der sich mit 21 in Kolumbien von der Mönchengladbacher Mannschaft absetzte und auf abenteuerliche Weise den Panama-Kanal überquerte, weil er auf der Südamerikareise seiner Borussia plötzlich Heimweh verspürt hatte. Der spontan aus einer Vertragsverhandlung ging und im Supermarkt den billigsten Sekt kaufte, als der damalige Borussen-Manager Helmut Grashoff meinte, auf das großzügige Angebot müsse man mit Champagner anstoßen. Netzer war jedoch der Meinung, "mehr sei das nicht wert".

Sein Einstiegsgehalt bei Borussia Mönchengladbach 1963 betrug 160 Mark, plus zehn Mark Einsatzprämie, und war ihm nie genug. Weshalb er schon früh einen Sinn für einträgliche Nebengeschäfte entwickelte. Eine Eigenschaft, die ihm nach der Karriere, als er den HSV als Manager von 1980 bis 1983 in die Weltspitze führte und als er noch später mit seiner Agentur Infront mit Fernsehrechten handelte, sehr zu Gute kam.

DFB-Pokalfinale 1973: "Ich spiele dann jetzt!"

Mit seinem nicht minder dickköpfigen Trainer Hennes Weisweiler stritt er sich manchmal so sehr, dass es wochenlang keine Kommunikation gab und der den beiden Alpha-Tieren ergebene Berti Vogts den Mittler spielen musste. Netzer war in der Mannschaft zuweilen so unbeliebt, dass nach Erstellung eines Soziogramms heraus kam, mit ihm wolle keiner im Doppelzimmer liegen. 2004 gestand er: "Ich erschrecke mich heute über diese Brutalität, die ich früher an den Tag legte, wenn mir die Mitspieler erzählen, was ich alles getan habe. Da erkenne ich mich nicht wieder." Er war eben "der King", wie sie ihn intern riefen: Überragender Dirigent, Vorbereiter und Torschütze in einem und verlangte oft Unmögliches von den minder Begabten.

Netzer, der mit dem Aufstieg der Borussia 1965 die Bundesligabühne betrat, schwebte so weit über allen anderen, dass er sich auch mit dem Trainer anlegen konnte. 1970 änderte er in Bielefeld nach der Pause eigenmächtig die ihm allzu offensive Taktik. Sie gewannen, doch er wurde mit wochenlangem Schweigen bestraft. Dann war er für Weisweiler wieder nur "dat lange Arschloch". Meister wurden sie trotzdem (1970 und 1971) in einem Stil, der Borussia zur populärsten Mannschaft des Landes machte und der ihr bis heute Sympathien einbringt.

Die legendäre Krönung der Renitenz ereignete sich im Düsseldorfer DFB-Pokalfinale 1973. Gegen den 1. FC Köln saß er wegen Trainingsrückstandes - und wohl auch, weil er (als erster Deutscher) zu Real Madrid wechselte - auf der Bank. In der Verlängerung wechselte er sich gegen den erschöpften Christian Kulik selbst ein ("Ich spiele dann jetzt!") und schoss prompt das Siegtor. Es ist die Geschichte seines Lebens, auch wenn er sie quasi inkognito spielte.

Die Spielmacherfrage der Nation: Netzer oder Overath?

Keinen deutschen Fußballer verbindet man stärker mit der Nummer zehn des Feldherrn, der wie an der Schnur gezogene lange Pässe schlug. In jenem Spiel aber trug er die Zwölf des ersten Reservisten, der er fast nie war. Nicht im Borussen-Dress, wo er in 230 Bundesligapartien nur einmal eingewechselt wurde und nicht im DFB-Dress, das er 37-mal trug (drei Einwechslungen). Dennoch gab es zwei Netzer: den im Verein und den in der Nationalmannschaft, wo er "mein vertrautes Umfeld, meine Mitspieler von Borussia" stets vermisste.

Gemessen an seinem Können war seine Länderspielkarriere die eines Unvollendeten. "Ich habe viel zu wenig Länderspiele gemacht", gab er zu. Er verpasste zwei Weltmeisterschaften, und seine Rolle bei der dritten, dem Triumph 1974 im eigenen Land, reduzierte sich auf einen 21-Minuten-Einsatz im Gruppenspiel gegen die DDR. Das Volk hatte ihn gefordert, Bundestrainer Helmut Schön gab nach und brachte ihn für den unpopuläreren Wolfgang Overath, der trotzdem "der bessere Nationalspieler war" (Netzer). Ansonsten saß er, weil nicht fit, auf der Tribüne.

Netzer oder Overath? Die Spielmacherfrage beherrschte fast die ganze Amtszeit von Schön und die Debatten an den Stammtischen. Spielten sie zusammen, ging es oft kolossal schief, wie beim historischen EM-Aus 1967 in Albanien (0:0). Fehlte einer, glänzte der andere. Netzers große DFB-Zeit erschöpft sich folgerichtig auf das Frühjahr 1972, als Overath an der Leiste verletzt war.

"Aus der Tiefe des Raums" beim ersten Sieg in Wembley

Sein bestes Länderspiel machte er am 29. April 1972. Es war der erste deutsche Sieg in Wembley, und Netzer war der Architekt jenes sagenumwobenen 3:1 gegen England, nachdem der FAZ-Feuilletonist Karl-Heinz Bohrer eineinhalb Jahre später die berühmten Worte schrieb: "Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte 'thrill'. 'Thrill', das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum".

Worte, die ihn sein Leben lang verfolgten. Sie verliehen ihm das Image des Genialen, des Einzigen, der das Spiel wirklich verstand. Er wusste, dass es nicht so war, aber er tat nichts dagegen. Denn es gefiel ihm ebenso wie das Image vom Rebellen. Acht Wochen nach Wembley war er Europameister und Deutschlands Fußballer des Jahres. Selbst der Kaiser (Franz Beckenbauer) und der Bomber (Gerd Müller) standen damals in seinem Schatten, denn Netzer war auch neben dem Platz ein Idol. Er kam an bei der Jugend der rebellischen Achtundsechziger-Generation. Wegen seiner langen Haare, seiner flotten Autos, seiner hübschen Freundinnen, seines "Lifestyles". Er hatte Kontakt in die Film- und Künstlerszene, trat in Klamauksendungen auf, trank mit Frank Sinatra in Las Vegas Cocktail und war der erste Fußballer, der eine Disco eröffnete.

"Das war revolutionär"

Und: er widersetzte sich den Autoritäten, was ihn anziehend machte für die links-alternative Szene. Dabei war Günter-Theo Netzer nie wirklich einer von ihnen. "Ich bin überhaupt kein politischer Mensch gewesen, doch die 68er haben in mir einen gesehen, der ihre Ideale verkörpert", hat er sein Image später reflektiert. "Krach mit dem Trainer, Aufbegehren gegen die Obrigkeit und Autoritäten, das war bis dahin undenkbar. Das war revolutionär. Mein Aussehen sowieso. Und sie haben meine Art Fußball zu spielen hoch interessant interpretiert. Das gefiel mir."

In der Borussen-Mannschaft war er bis zum Abschied 1973 nach Madrid, wo er in drei Jahren noch zweimal Meister wurde, nicht immer beliebt, aber stets geachtet. "Was mich immer gerettet hat, war die Tatsache dass ich immer vernünftig Fußball gespielt habe", sagte Netzer einmal, als der letzte Ball längst gekickt war. Eine charmante Untertreibung.